Substitutionsbegleitung mit dem Smartphone
Digitalisierung ist nicht nur ein allgegenwärtiges Schlagwort, sondern längst im Alltag angekommen – allerdings noch nicht in medizinischen Behandlungen und schon gar nicht in der Substitution. Dabei gibt es im Gesundheitssektor durchaus Technologien wie beispielweise Apps für das Handy, die sinnvolle Hilfestellungen ermöglichen, vor allem, wenn es sich um langgezogene Behandlungen handelt. Zentrale Voraussetzung dafür, dass eine solche App auch wirklich genutzt wird, ist allerdings, dass dieses technische Hilfsmittel tatsächlich auf die Bedürfnisse der PatientInnen zugeschnitten ist und diesen einen wirklichen Effekt bringt.
An der Hochschule Merseburg hatten wir uns mit unserem Forschungsprojekt „Checkpoint-S“ die ehrgeizige Aufgabe gestellt, eine App zu entwickeln, die für Substituierte zu einer Hilfe wird. Oft wurden wir gefragt, warum denn ausgerechnet eine App für Substituierte und nicht für „einfachere“ PatientInnengruppen – nun, weil wir davon überzeugt sind, dass Substituierte für uns genau die richtige Zielgruppe sind. Gerade in dieser Gruppe mussten wir nicht lange werben, ein Smartphone im Alltag zu nutzen; so ziemlich alle haben ein solches Gerät und sind vertraut damit, die verschiedenen technischen Möglichkeiten eines Smartphones zu nutzen. Und als eine Einrichtung, die SozialarbeiterInnen auch für den Drogenbereich ausbildet, wussten wir um die vielen Herausforderungen, die mit einer Substitution zu meistern sind. Deshalb war unser Ehrgeiz, die technischen Möglichkeiten einer App für Hilfe und Unterstützung bei dieser Behandlung zu erkunden und diese in einer speziell programmierten App möglichst bedienfreundlich nutzbar zu machen. Unser Projekt war ein Forschungsprojekt, in das wir möglichst viele PatientInnen einbeziehen wollten. Mit unserer Arbeit und dem vom Bundesforschungsministerium eingeworbenen Geld sollte ein wirklich hilfreiches Tool entstehen, auf das Substituierte kostenfrei zugreifen können.
Nach allen vorliegenden Erfahrungen ist der Vorteil einer App das sogenannte Self-Tracking. Dieser Begriff meint die freiwillige und selbstständige Erfassung von Daten über den eigenen Körper, das Verhalten, die eigenen Emotionen, über Aspekte des Lebens etc.; eigentlich etwas, das in der Substitution oft mit dem Führen eines Tagebuches gemacht wird. Überträgt man das Tagebuchführen aber auf Software und Hardwaregerätschaften, dann werden Auswertungen möglich, die ganz neue Einsichten und Erkenntnisse verschaffen. Richtig interpretiert eignen sich diese Daten, um z. B. bewusst zu machen, wie bestimmte Handlungsroutinen oder Befindlichkeiten zustande kommen, womit Craving oder eine bestimmte Missstimmung zusammenhängen und welche Strategien regelmäßig helfen, aus schwierigen Konstellationen herauszufinden, die eine Substitution immer wieder beschwerlich werden lassen. Aus diesem Grund sind digitale Tagebücher für das Self-Traking auch die zentralen Angebote, die wir für die App entwickelt haben.
Die erste Version der App, die seit September 2019 im Google-Playstore zum Download bereitsteht, umfasst vier digitale Tagebücher, mit denen spezifische Bereiche des Lebens durch substituierte PatientInnen dokumentiert werden können: (1) Im Substitutionstagebuch lassen sich die verschriebenen Substitutionsmittel mit Dosis und Zeitpunkt der Einnahme dokumentieren. (2) Im „Befinden-Tagebuch“ können die tägliche emotionale Verfassung genauso festgehalten werden wie die Gründe, die für gute und schlechte Stimmung sorgen (3) Im Konsumdruck-Tagebuch kann notieren werden, wie stark oder schwach das Bedürfnis nach Drogenkonsum ist sowie ob und welche Auslöser es hierfür gibt. (4) Schließlich kann mittels des Beikonsum-Tagebuchs erfasst werden, wann und welche legalen oder illegalen Substanzen während der Substitutionstherapie konsumiert werden. Durch verschiedene visuelle Aufbereitung können die NutzerInnen selbstständig und niederschwellig etwas über die Gründe und den Verlauf ihre emotionalen Höhen und Tiefen, ihrer körperlichen Beschwerden, ihres Suchtdrucks oder aber auch ihres Beikonsum lernen. Wir hoffen, dass derartige Einsichten ermöglichen, die individuelle Erkrankung und deren Behandlung besser zu verstehen.
Im besten Fall werden die Ergebnisse, die die App liefern kann, in die Diskussion und die Gestaltung der Substitutionsbehandlung einbezogen. Wir hatten deshalb vorgesehen, dass die PatientInnen, die dies wünschen, ihre Daten auch mit ihren BehandlerInnen teilen können. Das hängt natürlich ganz von dem Vertrauensverhältnis ab, dass Substitutierte zu ihren BehandlerInnen – seien es nun die SubstitutionsärztInnen oder SozialarbeiterInnen oder andere TherapeutInnen. Wir gingen davon aus, dass die aktive Mitarbeit der PatientInnen, die sich schon in der Nutzung der App zeigt, auch einen positiven Einfluss auf die Kooperations- und Mitwirkungsbereitschaft an der Behandlung insgesamt hat. Aber ganz sicher wird es die Substituierten bestärken, sich als emanzipierte PartnerInnen in die Therapie aktiv einzubringen.
Auch für ÄrztInnen, TherapeutInnen und SozialarbeiterInnen haben die Daten einen innovativen Wert für Diagnose, Therapie und Beratung. Durch sie lassen sich Hinweise auf Über- oder Unterdosierungen des Substitutionsmittels erkennen, Ursachen für emotionales Missbefinden klarer herausarbeiten u. ä. Das heißt, es entstehen im Alltag der PatientInnen gesammelte Daten, die zur Basis psycho- oder physiotherapeutischer Interventionen werden oder Anhaltspunkte für eine psychosoziale Beratung liefern.
Zu unserem Forschungsprojekt hatten wir diverse Kanäle in den sozialen Netzwerken eingerichtet, über die wir über die Entwicklung der App berichteten und mit allen in Kontakt kommen wollten, die sich direkt in die App-Entwicklung einbrachten. Leider ist es uns nicht gelungen, eine Anschlussfininzierung zu finden, die die Wartung dieser Medien und die regelmäßige technische Anpassung der App an die neuen Betriebssysteme der Smartphones ermöglichen. Hierzu gibt es noch immer erheblichen Bedarf, der die Weiterexistenz der App und der daran geknüpften Infrastruktur sichert. Für entsprechende Ideen und Vorschläge sind wir offen.
Das Forschungsteam