Mobilität im Wandel

Mobilität im Wandel

Wie Mobilität in Zukunft gelingen kann

Aktuell durchläuft die Art, wie wir leben, wie wir uns ernähren und wie und was wir konsumieren weltweit einen gewaltigen Transformationsprozess.

Ein großes Thema, was Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gleichermaßen umtreibt, ist der Bereich Mobilität. Die Art, wie wir uns fortbewegen, beeinflusst nicht nur die Infrastruktur der Städte, sondern auch die Definition, wie wir in Zukunft in Städten leben wollen. Denn erklärtes Ziel sind grüne, lebenswerte und nachhaltige Städte. Die Treiber dieser Transformation sind Elektromobilität, Digitalisierung und Automatisierung.

 

Batterieelektrische Fahrzeuge sind lokal emissionsfrei, durch den elektrischen Antrieb hoch effizient und leisten, wenn sie vorwiegend durch erneuerbare Energien angetrieben werden, einen substanziellen Beitrag zur Verhinderung des menschengemachten Klimawandels. Die Fahrzeugautomatisierung verspricht zudem komfortables, effizientes und vor allem sicheres Fahren. Batterieelektrische Fahrzeuge werden aber allein nicht die Lösung sein, da vor dem vollständigen Abschluss der Energiewende weiterhin CO2-Emissionen anfallen werden. Aktuelle Elektrofahrzeuge sind zudem tendenziell eher groß und schwer und haben damit einen hohen Energieverbrauch. Generelle Fragen der Individualmobilität, wie der hohe Flächenverbrauch für Straßen und Parkplätze, Verkehrsprobleme und Lärmbelastung, bleiben zudem weiterhin unbeantwortet.

Ganz ähnlich verhält es sich mit automatischen und autonomen Fahrzeugen. Diese sind zwar in der Nutzung sehr komfortabel, aber treten gerade dadurch in Konkurrenz zum ÖPNV. Wenn ich in meinem autonomen Pkw essen, schlafen und arbeiten kann und ihn bei Bedarf jederzeit verfügbar habe, warum sollte ich dann Bus und Straßenbahn nutzen? Verschiedene Studien zeigen¹, dass autonom geteilte Fahrzeuge das Potenzial haben, den Gesamtbestand an Fahrzeugen um 90% zu reduzieren. Gleichzeitig führt ein solches Anwendungsszenario durch die höhere Auslastung des einzelnen Fahrzeuges, die Substitution des öffentlichen Verkehrs und die damit verbunden Leer- und Bereitstellungsfahrten zu einer Verdopplung des aktuellen Verkehrsaufkommens. Der Verkehrsinfarkt unserer Städte wäre also vorprogrammiert. Der autonome batterieelektrische Pkw droht somit in naher Zukunft zur Belastung zu werden.

Die Arbeitsgruppe Autonome Fahrräder der Professur Mechatronische Systeme forscht seit vielen Jahren, zunächst in Magdeburg und seit April 2022 an der Hochschule Merseburg, an automatisierten Mikromobilen und deren Anwendung. Ein Mikromobil ist dabei ein leichtes, effizientes und an den konkreten Bedarf individuell angepasstes Fahrzeug. Beispiele für Mikromobile sind Fahrräder, (Schwer-)Lastenräder, Kabinenroller, E-Scooter und viele weitere, teils exotisch 

 

 

anmutende Fahrzeuge, wie sie von verschiedensten kleinen Mobilitäts-Startups entwickelt werden. Mikromobile haben gegenüber dem Pkw vielfältige Vorteile, wie Zugänglichkeit, Effizienz, geringer Ressourcenverbrauch sowie niedrigere Energie- und Betriebskosten, und erlauben unterschiedliche Anwendungen in Mobilität und Logistik.

Eine Vielzahl von Mikromobilen für Spezialanwendungen kann ein einzelner Mensch allerdings nicht besitzen. Nicht jede*r hat die Möglichkeit, beispielsweise ein schweres Lastenrad in seinem Keller unterzubringen oder die Ressourcen, sich für jeden Anlass ein Mikromobil anzuschaffen, d.h. sie müssen intelligent bereitgestellt werden. Hier kommt die Automation ins Spiel. Diese ermöglicht es, die verschiedensten Fahrzeuge in einem Verleihsystem jederzeit an einem beliebigen Ort zur Verfügung zu stellen. Wenn beispielsweise ein Nutzer ein Fahrzeug an einen gewünschten Ort ruft, bewegt sich dieses selbstständig auf Fuß- und Radwegen zu ihm und wird dann am Übergabeort in den manuellen Modus übernommen, d.h. der Nutzer lenkt und fährt das Fahrzeug zu seinem gewünschten Zielort, z.B. einer Straßenbahnhaltestelle. Dort steigt er in den ÖPNV um, ohne sich um die Rückgabe des automatisierten Mikromobils kümmern zu müssen. Dieses wird schlicht entlassen und steht einer anderen Anforderung zur Verfügung oder bewegt sich ins Depot, um dort gewartet oder geladen zu werden. Der Nutzer sitzt dann in der Straßenbahn, und in dieser Vision wartet an der Endhaltestelle bereits ein weiteres automatisiertes Mikromobil, welches ihn bis zur Haustür bringt (siehe Grafik unten).

 

Entlang dieses Nutzungsszenarios und mit der Möglichkeit, autonom kleine, leichte und mobile Einheiten durch die Stadt zu schicken, sind verschiedene Anwendungen möglich, etwa die Beförderung von Kindern zum Kindergarten, der Transport von schwerem Gepäck vom Bahnhof zur Haustür, aber auch logistische Anwendungen etwa beim Transport von Medikamenten oder der Zustellung von Post- und Paketsendungen. Gemein ist diesen Anwendungen, dass sie nicht in Konkurrenz zum ÖPNV stehen, sondern diesen auf der ersten und letzten Meile ergänzen. Dies ist notwendig, um den hocheffizienten ÖPNV als Transportmittel auch in der Ära des autonomen Pkw konkurrenzfähig zu halten.

Auf dem Weg zur Realisierung der skizzierten Vision sind eine Reihe von gesellschaftlichen, logistischen und technischen Herausforderungen zu lösen. Neben rechtlichen Fragen steht vor allem die Akzeptanz solcher Systeme im Fokus.

 

Dabei stehen vorrangig folgende Aspekte im Mittelpunkt:

  • Wie interagieren Mikromobile mit den Nutzenden?
  • Wie kommunizieren die Mikromobile ihre Bewegungsabsicht gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern?
  • Auch Aufklärungsarbeit spielt insgesamt eine Rolle.

 

Auf der logistischen und betriebswirtschaftlichen Ebene sind folgende Fragestellungen bedeutsam:

  • Wie kann ein geeignetes Betriebskonzept aussehen?  
  • Wie viele Fahrzeuge sind nötig, um ein definiertes Operationsgebiet abzudecken?
  • Welche Reichweite und Durchschnittsgeschwindigkeit müssen die Fahrzeuge besitzen, und wie können sie proaktiv verteilt werden, um einen möglichst hohen Grad an Verfügbarkeit zu erreichen?

 

Auf der technischen Ebene sind die zu lösenden Herausforderungen ähnlich anspruchsvoll wie beim autonomen Pkw:

  • Welche Sensorik ist zur Lokalisierung und Umfeldwahrnehmung geeignet?
  • Wie lassen sich andere Verkehrsteilnehmer sicher und zuverlässig detektieren und ihre Bewegungsintention bestimmen?
  • Auf welchen Wegen bewegt sich das Fahrzeug und wie reagiert es in kritischen Situationen?
  • Wie lassen sich die verschiedenen Anforderungen und notwendigen Subsysteme auf engstem Bauraum und bei geringer Energieverfügbarkeit realisieren?

All diese Fragen mit den dahinterstehenden Herausforderungen gilt es in den nächsten Jahren anzugehen.

Die Gruppe Mechatronische Systeme der Hochschule Merseburg forscht im Wesentlichen zu technischen Fragestellungen, aktuell in zwei durch den mFUND und das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur geförderten Forschungsprojekten an automatisierten Mikromobilen.

 

Im Projekt Ready for Smart City Robots? Multimodale Karten für autonome Mikromobile (R4R) untersucht das Projektkonsortium exemplarisch an Köthen und Schkeuditz, ob die aktuelle Infrastruktur in Städten für den Einsatz von autonomen Mobilitäts- und Logistiklösungen geeignet ist. Wie breit sind Radwege und in welchem Zustand befinden sich diese? Informationen und Daten dieser Art sind zur Konzipierung eines autonomen Systems notwendig. Das Projekt R4R versucht, diese Daten mit Hilfe der Fahrradcommunity durch eine Mobilitäts-App und ein spezielles Lastenradverleihsystem zu erheben. Ziel ist die Erstellung einer digitalen Karte der genannten Innenstädte. Der Beitrag der Hochschule Merseburg besteht darin, mit dem vorhandenen Versuchsträger und einer hochgenauen Sensorik Referenzdaten zu erheben und die erstellten Communitykarten zu validieren. Des Weiteren soll ein Anwendungsszenario auf Basis eines automatisierten Lastenrades konzipiert und prototypisch in Köthen realisiert werden.

Im Projekt OPTmicro geht es um die Erhebung eines umfangreichen Referenzdatensatzes, welcher KI-basierte Funktionen und deren Validierung ermöglichen soll. Der Beitrag der HoMe adressiert die Erhebung des Datensatzes, dessen (teil-) automatisierte Annotation und die Implementierung von Referenzfunktionen für Objekterkennung und Fußgängerprädiktion.

All dies sind Bausteine auf dem Weg zu einer neuen automatisierten Mobilität, in der kleine mobile Einheiten bedarfsgerecht angefordert und genutzt werden können. Damit wird Raum in Städten frei, der bisher als Verkehrsfläche von wenigen beansprucht wird. Unsere Städte können somit offener, grüner, gesünder und lebenswerter werden. Speziell für Merseburg wünsche ich mir, dass wir die Anbindung der Hochschule an den Bahnhof deutlich verbessern können, indem mittelfristig ein Verleihsystem für autonome Lastenräder aufgebaut und am Standort entwickelt und erprobt werden kann.

 

 

 

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Quelle:S. Hörl, F. Becker, T. Dubernet and K. W. Axhausen. Induzierter Verkehr durch autonome Fahrzeuge: Eine Abschätzung. Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme, ETH Zürich, 2019

In der Grafik sind die Abläufe des Rufsystems und der Nutzung des AuRa dargestellt.
Grafik: OVGU

 

Kontakt

Prof. Dr. Stephan Schmidt
Professur für Mechatronische Systeme
Raum: Hg/C/4/06
Telefon: +49 3461 46-2974
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