Kristina Schmidt, Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt, lehrt im Wintersemester 2024/25 „Kollektives Arbeitsrecht“ im Rahmen des Studienschwerpunktes „Arbeitsrecht“ im Fachbereich „Wirtschafts- und Informationswissenschaften“ (WIW) der Hochschule Merseburg.
Frau Schmidt, Sie waren die erste Bundesrichterin mit rein ostdeutscher Biografie und galten vielerorts als Exotin. Lassen sich diesbezügliche Unterschiede zu Urteilen ihres westdeutsch geprägten Kollegiums finden?
Als ich 2009 zur Richterin am Bundesarbeitsgericht ernannt wurde, habe ich eine große Portion Freude und eine ungleich größere Portion Respekt vor der neuen Aufgabe empfunden. Als Exotin habe ich mich weder damals noch jetzt wahrgenommen, zumal seit einigen Jahren am Bundesarbeitsgericht – ebenso wie an anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes - weitere Richterinnen und Richter mit einer „rein“ ostdeutschen Biografie tätig sind.
Betrachten Sie diesbezüglich trotzdem Themen aus einer anderen, zusätzlichen Perspektive?
Die gewiss etwas zugespitzte Fragestellung veranlasst zu einem Blick in das Grundgesetz: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ Damit ist klar – und übrigens auch in einer wunderbar präzisen Formulierung – ausgedrückt, dass geltendes Recht und geltende Gesetze jegliche Urteilsfindung binden. Gesetze wiederum, und das gilt für „meine Materie“ des Arbeitsrechts ganz besonders, eröffnen wegen ihrer abstrakten Fassung zwangsläufig Interpretations- und Auslegungsspielräume. Deren Ausfüllung durch die Wahrnehmung richterlicher Spruchtätigkeit bleibt nicht unbeeinflusst von „außergesetzlichen“ Faktoren, wozu Herkunft, Sozialisierung und Erfahrungswerte gehören. Eine rein ostdeutsche oder rein westdeutsche Biografie spielt dabei nach meiner Einschätzung weniger eine Rolle. Für ohnehin bedeutsamer erachte ich den Umstand, sich dieser Einflussfaktoren bewusst zu sein, sie wahrzunehmen, sich darüber auszutauschen und sie auch(selbst-)kritisch zu hinterfragen. Das bereichert und sichert die eigene richterliche Unabhängigkeit.
Jedem Anfang wohne ein Zauber inne, heißt es bei Hermann Hesse. Welches Schlüsselerlebnis hat Sie bewogen, in die Materie der Rechtswissenschaften einzudringen?
Die von einer Fabel geweckte Neugier darauf, was Gleichheit und was Gerechtigkeit ist – wobei ich mich heute gar nicht mehr erinnere, aus welcher Quelle die kurze Erzählung stammt: „Das Leittier einer Schafherde beschwert sich bitterlich beim König der Tiere – dem Löwen – darüber, dass die Wölfe immer ungestraft die Schafe reißen dürften. Das sei eine große Ungerechtigkeit! Der Löwe sieht das ein und denkt nach. Am nächsten Tag verkündet er ein Gesetz, das für Gerechtigkeit und Gleichheit sorgen soll. Es lautet, dass künftig alle Schafe ungestraft alle Wölfe reißen dürfen.“
Die Hochschule Merseburg steht unter anderem für eine praxisnahe Lehre. Wie werden Sie dieses Konzept bedienen? Welche Erfahrungen bringen Sie mit?
Praxisnahe Lehre bedeutet für mich diskursive Lehre, Lernen (auch) anhand von Fallbeispielen. Dabei kommt mir sicherlich ein gewisser Fundus an Rechtsstreitigkeiten aus meiner richterlichen Tätigkeit und meine Erfahrung als Referentin im Betriebsverfassungsrecht zugute.
Die Jurisprudenz gilt als trockene Thematik. Wie werden Sie die Lehre auflockern?
Es stimmt, dass Jura als trocken und spröde gilt. Es stimmt aber auch, dass Arbeitsrecht Spaß macht. Die Materie ist geprägt von gegenläufigen Interessen auf Arbeitgeber- und auf Arbeitnehmerseite. Gibt es etwas Spannenderes, als dem Ausgleich dieser Gegensätze auf den Grund zu gehen? Fast zu jeder im Arbeitsrecht praktisch bedeutsamen Frage kann man eine der beiden Positionen einnehmen und trefflich darüber streiten. Ich finde das sehr reizvoll.
Wird es Exkursionen geben?
Ich versuche, meine Begeisterung weiterzugeben, auch mittels einer Exkursion nach Erfurt zum Bundesarbeitsgericht.
Nach dem Studium sind die Absolventinnen und Absolventen in der Regel thematisch breit aufgestellt. Was sollen Studierende aus Ihren Veranstaltungen unbedingt mitnehmen? Welches Ziel geben Sie den Studierenden an die Hand?
Idealerweise nehmen die Studierenden eine Faszination für arbeitsrechtliche Themen und eine Sensibilität für den Wert kollektiver Gestaltungen mit. Ich denke vor allem an betriebliche Mitbestimmung durch den Betriebsrat, an Tarifverträge und an die sogenannte Unternehmensmitbestimmung. Ich freue mich darauf!
Vielen Dank für die Eindrücke. (ahh.)++