INTERVIEW: Das BiV - Bildungsinstitut für inklusive Vielfalt holt das erste EXIST Gründungsstipendium an die Hochschule Merseburg

26.03.2024, Drittmittelprojekte Existenzgründung

Julika Prantner-Weber und Pauline Seuß haben es mit dem BiV – Bildungsinstitut für inklusive Vielfalt geschafft das erste EXIST Gründungsstipendiuman die Hochschule Merseburg zu holen. Das EXIST Gründungsstipendium würdigt herausragende gründungsinteressierte Student*innen, Absolvent*innen und Wissenschaftler*innen, die innovative wissensbasierte Dienstleistungen oder Produkte entwickeln und diese zur Marktreife bringen wollen. Wie es zu der Idee kam, wie sie als Team zusammengefunden haben und welchen Herausforderungen sie sich jetzt stellen, haben sie uns in einem Interview erzählt. 

 

1. Erzählt doch mal: Wer seid Ihr und was macht Ihr?

Julika Prantner-Weber: Ich bin Julika Prantner-Weber, benutze die Pronomen Sie/Ihr und bin 32 Jahre alt. Ich wohne jetzt schon seit guten 11 Jahren in Leipzig und habe in den letzten Jahren eine lange Kette verschiedener Ausbildungen beziehungsweise Studiengängen geknüpft. Das startete mit Ergotherapie, dann dem Bachelor Soziale Arbeit in Merseburg. Nach einem Jahr Pause im studentischen Bereich, habe ich dann an der Hochschule Merseburg den Master Angewandte Sexualwissenschaft angeknüpft. Mit jedem nächsten Ausbildungsschritt haben sich meine Begeisterung und auch mein Wissen immer mehr kanalisiert, hin zu den Bereichen Pädagogik, Sexualwissenschaft und insbesondere queeren Themen. Im September 2022 habe ich dann meinen Master abgeschlossen. Das war für mich gleichzeitig auch ein neuer Startpunkt. Ich habe meine Masterarbeit abgegeben und verteidigt, die den wissenschaftlichen Grundstein für unser jetziges Projekt gelegt hat.

Pauline Seuß:  Ich bin Pauline Seuß, meine Pronomen sind auch Sie/Ihr und ich bin 31 Jahre alt. Ich lebe seit ca. 6 Jahren in Leipzig und habe in Wien Kultur- und Sozialanthropologie studiert. Anschließend bin ich für ein Erasmus Praktikum nach Deutschland zurückgekommen. Hier war ich dann in einem Frauenhaus für jesidische Frauen aus dem Nordirak tätig.  Nach dem Bachelor lag mein Fokus auf Migrations-, Integrations- und Asylthemen. Dabei interessierte mich vorrangig der Umgang mit Diversität von Kulturen im eigenen Land, während die Anthropologie ja klassischerweise fremde Kulturen von außen betrachtet und erforscht. In diesem Kontext habe ich dann noch mit unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten in einer Wohngruppe gearbeitet. Im Anschluss habe ich noch ein Masterstudium der Kulturwissenschaften absolviert, mit dem Schwerpunkt Gender- und Queerstudies. Schon während des Masters war ich in politische Bildungsarbeit rund um diskriminierungssensible, gendersensible und feministische Themen involviert.

 

2. Wie habt Ihr Euch kennen gelernt und wie hat Eure professionelle Zusammenarbeit begonnen?

Julika Prantner-Weber: Pauline hat mich von ca. 1,5 Jahren angefragt an einer Folge des Podcasts “VomensBar digitale” teilzunehmen. In der Folge ging es jedoch um ein anderes Thema: Fettfeindlichkeit und Fat activism. Darüber habe ich sie als politisch, feministische Aktivistin und als Person kennengelernt, die Erfahrung im Bereich Erwachsenenbildung hat. Außerdem haben wir festgestellt, dass wir beide einen Bezug zur Hochschule Merseburg haben. Ich im Rahmen meines Studiums, Pauline in einer Projekttätigkeit. Sie war die erste Person, an die ich gedacht habe, als es darum ging mein Vorhaben umzusetzen.

Pauline Seuß: Ich hatte in der Zeit verschiedene Lehraufträge an der Hochschule Merseburg zu genderpolitischen und diversitätssensiblen Themen. Außerdem war ich im Projekt FEM POWER tätig. Julikas Idee hat bei mir gleich Interesse geweckt und einen Nerv getroffen. Ich hatte zuvor vermehrt politische Bildungsarbeit an Schulen durchgeführt und habe in diesem Kontext großen Bedarf an speziell entwickelten Bildungsangeboten durch gut ausgebildete Fachpersonen wahrgenommen. Ehrenamtsarbeit und soziales Engagement stoßen hier an ihre Grenzen, vor allem unter dem gegenwärtigen Rechtsruck.

 

3. Wie ist Euer aktuelles Vorhaben entstanden?

Julika Prantner-Weber: Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich wissenschaftlich, pädagogisch Materialien hergeleitet, die sexuelle, romantische und geschlechtliche Bildung abbilden. Diese fußen auf einem breiten Theoriebett und werden gleichzeitig mit Inklusionsinstrumenten auf ihre Funktionalität und inklusive Anwendbarkeit geprüft. Queere Bildung ist mein Herzensthema, in dem ich unter Einbezug von Haupt- und Nebentätigkeiten seit rund 7 Jahren tätig bin. Hier bin ich immer wieder auf große Bedarfe gestoßen. Mir ist aufgefallen, dass bestehende Angebote und Materialien nicht inklusiv für Alle arbeiten und teilweise zu hochschwellig sind. Das hat mich pädagogisch immer wieder herausgefordert, sodass es mein Ziel geworden ist, mich diesem Thema in meiner Masterarbeit breit gefächert anzunähern und selbst Materialien zu entwickeln. Nach erfolgreicher Verteidigung habe ich mich auf Hinweis von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg, an den Gründerservice der Hochschule gewendet. Hier hat man mich mit meiner Idee sehr herzlich willkommen geheißen und mich darin bestärkt meine Idee größer zu denken und weiterzuentwickeln. Also wir haben uns entschlossen, mein Vorhaben beim EXIST Gründungstipendium zu platzieren. Im Juni 2023 habe ich den Antrag eingereicht, es gab noch eine Korrektur- und Schärfungsphase und im Herbst die finale Zusage für das Stipendium. 

 

4. Könnt Ihr Eure Idee einmal genau schildern?

Pauline Seuß: Unser Vorhaben stützt sich insgesamt auf drei Säulen. Wir haben und wollen Bildungsmaterial rund um geschlechtliche, romantische und sexuelle Vielfalt entwickeln, dass differenzierbar und damit inklusiv anwendbar ist. Das Material wird im schulischen Unterricht für Kinder und Jugendliche anwendbar sein. Die direkte Zielgruppe sind dabei Lehrer*innen sowie Personen, die in lehrender Position für Projekte, Stiftungen und andere Organisationen tätig sind. Die Begleitschulung gilt der nachhaltigen und sensiblen Anwendung des Materials. Darüber hinaus bieten wir Coachings und Fachschulungen an, die diskriminierungssensibel und sexualpädagogisch fundiert Vielfalt thematisieren.

Julika Prantner-Weber: Zuletzt wollen wir auch Beratungen dazu anbieten, wie Bildungsinhalte durch Illustration und Darstellung zugänglicher gemacht werden können. Vor allem Barrierereflektion und barrierearmes Design stehen hier im Fokus. Wir arbeiten mit einem weiten Inklusionsverständnis. Dieser schließt nicht nur Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen ein. Ein weites Inklusionsverständnis betrachtet alle Gruppen von Lernenden in einem heterogenen Verständnis. Dabei geht der Trend weg von der Selektion und hin zu einem Bildungssystem und Methoden, die darauf ausgelegt sind, alle anzusprechen.

 

5. Wie seid Ihr auf den Namen BiV – Bildungsinstitut für inklusive Vielfalt gekommen?

Julika Prantner-Weber: Uns war im Bereich der Materialien und auch der zugehörigen Schulung der wissenschaftliche Anspruch dahinter sehr wichtig. Daher haben wir den Titel des Bildungsinstituts gewählt. Wir definieren uns einerseits sehr über die wissenschaftliche Aktualität, andererseits aber auch über die Praxisnähe und die Anwendungsprüfung unserer Materialien. Auf dieser Basis fusioniert unser Inklusionsanspruch mit dem Thema Vielfalt.

 

6. Wie geht es jetzt für Euch weiter?

Pauline Seuß: Ein ganz großer Schatz dieses Gründungsjahres ist die Sammlung von Feedback und Erfahrung mit unseren Materialien und der Bildungsarbeit. Wir werten die Feedbackschleifen aus, arbeiten mit Coach*innen, wie der Politologin Katharina Debus zusammen und können die Anwendbarkeit in verschiedenen Szenarien und Kontexten erproben. Am 21.03.2024 sind wir außerdem bei einer Fachtagung vertreten. Die Konferenz “Kinder- und Jugendhilfe und Schulen verqueeren” Selbstbestimmung fördern - Queerfeindlichkeit begegnen findet an der Hochschule Merseburg statt. Wir arbeiten unter Hochtouren an unserem Onlineauftritt, also unserer Website und unseren Social Media Accounts und machen uns darüber Gedanken, wie wir wen ansprechen und unsere Zielgruppen erreichen. Auch im Bereich Marketing soll sich einiges tun.

Julika Prantner-Weber: Das Stipendiumsjahr gibt uns neben Sachmitteln und finanzieller Absicherung auch sehr viel Vertrauen in uns selbst und in unser Produkt. Außerdem haben wir die Möglichkeit in alle Bereiche reinzuschnuppern und Fehler zu machen. Dass einem nicht jeder risikoreiche Schritt zum Verhängnis werden kann, ist sehr viel wert. Dafür sind wir dankbar und freuen uns über die Früchte, die wir nach dem langen Antragsprozess jetzt ernten können. 

 

7. Welche Herausforderungen seht Ihr aktuell?

Pauline Seuß: Spannend ist auf jeden Fall die Entwicklung unserer eigenen Organisation und Unternehmensstruktur. Bei so einem Stipendium startet man nicht einfach wie in einem Job, bei dem feste Strukturen und Prozesse bereits vorhanden sind. Da wird man eingearbeitet und füllt eine Position, die gerade leer geworden ist. Wir haben noch keine festen Plätze, Positionen, Strukturen oder Rollen und dürfen alles selbst entwickeln, während wir schon produktiv arbeiten. Wir müssen quasi unseren Platz am Tisch noch finden, während wir schon essen. Es ist aber auch sehr befreiend, selbst zu entscheiden und zu entwickeln, wie wir miteinander arbeiten wollen.

Julika Prantner-Weber: Genau das wollen wir zu unserem Vorteil nutzen. Wir genießen den Entscheidungsfreiraum und schaffen unsere eigenen Regeln.

Pauline Seuß: Wir profitieren aber auch sehr von den schon bestehenden Strukturen, auf die wir zurückgreifen können, wie die Kontakte zu Coach*innen, Teambuilding und Beratung. Wir können uns jederzeit Hilfe holen und haben Ansprechpartner*innen in verschiedenen Bereichen.

 

8. Welche Ziele verfolgt Ihr?

Julika Prantner-Weber: Ich habe eine ganz große Vision, auch wenn ich nicht glaube, dass wir in einem Jahr schon da sein können. Ich möchte gerne einen Ort schaffen, der einen hohen Anspruch an Vielfaltsbildung mitbringt und so vielen Personen wie möglich zugänglich ist. Wir wollen ein großes Netzwerk aufbauen, unsere Leute, die absurd gute Bildungsarbeit machen, genauso bezahlen und dazu beitragen Deutschland langfristig queerfreundlicher zu machen. Ich möchte nach diesem Jahr zurückblicken und sagen können, dass wir dieses Jahr bestmöglich genutzt haben.

Pauline Seuß: Ein langfristiges Ziel ist es natürlich ein gut laufendes und finanziell sicheres Institut aufzubauen. Das gibt nicht nur uns Sicherheit, sondern auch unseren Kund*innen und schafft Unabhängigkeit von Förderungen und politischem Wohlwollen. Wir wollen unsere Bildungsangebote langfristig verfügbar machen. Es sollte nicht idealistisch sein, Menschen für Bildungsarbeit gut zu bezahlen, denn wir wissen beide aus eigener Erfahrung, was es für ein Knochenjob ist, diese Arbeit zu leisten. Es ist pure Performance zu einem Thema, dass uns beide persönlich sehr mitnimmt und Betroffene noch mehr mitnimmt, wenn die stattfinden kann.

Julika Prantner-Weber: Langfristig wollen wir auch unabhängig von aktuellen Parteisituationen sein. Gleichzeitig gehen wir aber auch ein großes Risiko ein: Denn wenn sich der Markt und politische Situationen anders entwickeln sollten und sich das in Schulen und Bildungseinrichtungen spiegelt, nimmt das auch Einfluss auf unsere potenziellen Kund*innen.

 

9. Was könnt Ihr anderen Personen raten, die sich auf den Weg machen und ihre Ideen umsetzen wollen?

Pauline Seuß: Uns ist vor allem aufgefallen, dass wir uns erst im Rahmen des Stipendiums getraut haben groß zu denken. Da wir keinen BWL-Background haben, haben wir uns zu Beginn kaum Gedanken zur geschäftlichen Strategie und Wachstum gemacht. Unser Fokus lag eher auf der konkreten Bildungsarbeit. Klar kann man immer scheitern und auch das ist etwas, woran wir denken müssen. Wir haben zum Glück keine große Fallhöhe. Aber man darf sich auch trauen an das Gegenteil des Scheiterns zu denken.

Julika Prantner-Weber: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass besonders weiblich sozialisierte Personen sich mit ihren Vorhaben weniger trauen groß zu denken. Uns wird häufig gesagt “sei zurückhaltend”, “sei nicht prahlerisch”, “platzier dich (erstmal) nicht zu groß”. Ist man mit diesem Leitbild aufgewachsen, kann es vorkommen, dass es einem völlig normal vorkommt, nur im kleinen Rahmen zu denken. Es kann sehr empowernd sein, aus diesem Rahmen herauszutreten und das Feld nicht denen zu überlassen, das unternehmerische Handeln in die Wiege gelegt wurde.

Pauline: Habt Vertrauen in eure Idee! 

 

Mehr zum Vorhaben von Julika Prantner-Weber und Pauline Seuß finden Sie unter www.bildungsinstitut-inklusive-vielfalt.de oder auf Instagram unter @BiV_inklusive_Vielfalt.  

Wir wünschen dem Gründungsteam einen erfolgreichen Start! 

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