Ein multidisziplinärer Forschungsverbund mit über 30 Wissenschaftler*innen von sechs Hochschulen und Universitäten hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren die Lebenslagen und Bedürfnisse ungewollt Schwangerer, ihre Unterstützungs- und Versorgungsbedarfe sowie die Versorgungsstrukturen hierzulande untersucht. Das Projekt „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung (ELSA)“ wurde vom Bundesministerium für Gesundheit aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Für Deutschland gibt es bislang keine vergleichbar umfassende und fundierte Studie. Im Herbst soll der Gesamtbericht einschließlich Handlungsempfehlungen vorliegen. Aufgrund der hohen Relevanz stellte das Projekt bereits jetzt ausgewählte Ergebnisse zur Verfügung. Die Online-Präsentation der Ergebnisse am 10. April 2024 erzeugte großes öffentliches und mediales Interesse.
Der Forschungsverbund untersucht verschiedene Facetten des Themas ungewollte Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüche: Die Perspektive von Frauen, die ungewollt eingetretene Schwangerschaften abbrechen oder austragen, die Perspektive von Ärzt*innen sowie die Perspektive von Fach- und Leitungskräften aus Beratungsstellen. Darüber hinaus werden Strukturdaten zu psychosozialen und medizinischen Unterstützungs- und Versorgungsangeboten erhoben.
An der ELSA-Studie beteiligt sind neben der HochschuleFulda, bei der auch die Verbundkoordination liegt, die Hochschule Merseburg, das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg, die Freie Universität Berlin, die Hochschule Nordhausen sowie die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm. Dem Projektbeirat gehören neben medizinischen Expert*innen auch Fachgesellschaften und Beratungsverbände an.
Lebenslagen und Wohlbefinden im Fokus
Wesentliche Themen der ELSA-Studie sind die Lebenslagen und das Wohlbefinden ungewollt Schwangerer sowie die medizinische und psychosoziale Versorgungssituation, die Nutzung der bestehenden Angebote sowie die Barrieren, die den Zugang erschweren. Hierzu wurden Frauen befragt, die eine ungewollt eingetretene Schwangerschaft abgebrochen oder ausgetragen haben. Als Vergleichsgruppe wurden zudem Frauen mit gewollten Schwangerschaften befragt. Methodisch kamen sowohl quantitative als auch qualitative Erhebungen und Analysen zum Einsatz. Ebenso werteten die Forschenden Strukturdaten zur medizinischen und psychosozialen Versorgung und Daten aus qualitativen und quantitativen Expert*innenbefragungen aus.
An der Hochschule Merseburg wurden in einem ersten Projektpaket Strukturdaten zur psychosozialen Versorgungslandschaft recherchiert sowie eine quantitative Fragebogenerhebung unter Leitungskräften von Schwangerschaftsberatungsstellen durchgeführt. Vertiefend wurden in einem weiteren Projektpaket sechs qualitative Fokusgruppeninterviews mit Beratungsfachkräften unterschiedlicher Träger und aus unterschiedlichen Regionen umgesetzt. In einem dritten, medieninhaltsanalytisch ausgerichteten Projektpaket wurden in mehreren Teilerhebungen einerseits eine Suchwort-Recherche bei Google umgesetzt und andererseits Websites von Schwangerschaftsberatungsstellen und Ärzt*innen/medizinischen Einrichtungen hinsichtlich der dort vorhandenen Informationen zu ungewollter Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch analysiert.
Zentrale Ergebnisse der Hochschule Merseburg zu psychosozialer Versorgung und
zum Zugang zu Informationen im Internet
Versorgungslandschaft und Verbesserungsbedarfe
Der im Schwangerschaftskonfliktgesetz vorgegebene Personalschlüssel von einer vollzeitäquivalenten Fachkraft pro 40.000 Einwohner*innen wird bundesweit gut umgesetzt. Länderbezogene Unterschiede zeigen sich in der Pluralität der Träger, den Beratungsmöglichkeiten nach § 219 StGB und den Ausführungen zur Erreichbarkeit der Beratungsstellen. Vergleichende Aussagen zur psychosozialen Versorgungsstruktur der Länder sind jedoch nur begrenzt möglich, da die Daten uneinheitlich erfasst werden.
Nach dem Verbesserungsbedarf gefragt, nannten die befragten Leitungs- und Beratungskräfte an erster Stelle die medizinische Versorgung, gefolgt von der psychosozialen Versorgung. Als drittes großes Thema wurden die rechtlichen Regelungen rund um den Schwangerschaftsabbruch benannt und vor allem die strafrechtliche Rahmung und die Beratungspflicht kritisiert.
Inhaltsanalyse zu Google-Trefferlisten
Eine Suchwort-Recherche über Google lieferte überwiegend journalistisch aufbereitete Inhalte. Auf weniger als einem Drittel Treffer-Seiten sind rechtliche oder medizinische Informationen zu einem Schwangerschaftsabbruch vorhanden.
Analyse der Informationen auf Websites von Schwangerschaftsberatungsstellen und von Ärzt*innen/medizinischen Einrichtungen der Bundesärztekammer-Liste
Fast alle Beratungsstellen haben Websites und stellen dort Informationen über soziale und rechtliche Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs zur Verfügung, jedoch informiert weniger als die Hälfte der Websites über medizinische Aspekte.
Auf Websites von Ärzt*innen sind nur selten entsprechende Informationen vorhanden, obwohl das Werbeverbot (§219a Strafgesetzbuch) abgeschafft ist.
In allen Teilerhebungen zeigten sich eine eingeschränkte Barrierefreiheit sowohl bei Zugänglichkeit der Informationen und als auch bei der Verständlichkeit für Personen, die andere Sprachen oder Leichte Sprache benötigen.
→ Zu den ersten Befunden erläutert Prof. Maika Böhm, Professur für Sexualwissenschaft und Familienplanung, Leitung des Merseburger Forschungsprojekts: „Entlang der von uns ausgewerteten Daten können wir sagen, dass der gesetzlich vorgeschriebene Versorgungsschlüssel für das Beratungsangebot eingehalten wird. Allerdings können wir daraus keine Schlussfolgerungen hinsichtlich einer ausreichenden Bedarfsdeckung ziehen. Im Gegenteil finden sich in unseren Befragungen hierzu eindeutige Aussagen zu komplexer werdenden Aufgaben und Bedarfen bei gleichzeitig nicht ausreichender finanzieller Ausstattung der Beratungsstellen.“ Insgesamt zeige die Studie, so Böhm, erneut die hohe Bedeutung der Beratungsstellen als zentrale Anlaufstellen und Netzwerkakteurinnen bei ungewollter Schwangerschaft, die über umfangreiches Verweisungswissen verfügen. Zudem betont sie die Notwendigkeit, dass insbesondere Fachinstitutionen wie Schwangerschaftsberatungsstellen und medizinische Einrichtungen zukünftig Online-Informationen zu ungewollter Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch barrierearm und gut verständlich zur Verfügung stellen sollten.
-------------------------------------------------------------------------------------
Wissenschaftlicher Kontakt:
Projekt ELSA
Prof. Dr. Maika Böhm, Hochschule Merseburg
Professur für Sexualwissenschaft und Familienplanung
E-Mail: maika.boehm@hs-merseburg.de